Taliban

Machtübernahme der Taliban: Flüchten jetzt Afghanen nach Europa?

Antun Boskovic
Antun Boskovic

Afghanistan,

Viele Afghanen versuchen wegen der Machtübernahme durch die Taliban, das Land fluchtartig zu verlassen. Die Flüchtlinge dürfte es auch nach Europa ziehen.

Afghanistan Taliban
Flüchtlinge aus Afghanistan, meist ohne Hab und Gut. - AP Photo

Das Wichtigste in Kürze

  • Laut UN sind seit Jahresbeginn rund 400'000 Afghanen aus Afghanistan vertrieben worden.
  • Ein Experte glaubt, dass sich die Fluchtmobilität noch verstärken wird.
  • Er rechnet damit, dass die Anzahl afghanischer Flüchtlinge Richtung Europa zunehmen wird.

Im Rekordtempo haben die Taliban in Afghanistan Stadt um Stadt erobert und die Macht an sich gerissen. Viele Afghanen versuchen deswegen aus Angst vor dem neuen Regime der Taliban, das Land fluchtartig zu verlassen.

«Am ehesten werden die Fluchtwilligen versuchen, über die Nord- und Westgrenze des Landes auszureisen.» Das erklärt Reinhard Schulze, Professor für Islamwissenschaften an der Universität Bern, auf Anfrage von Nau.ch

In den iranischen Grenzgebieten zu Afghanistan gebe es schon jetzt grosse Flüchtlingslager. Die Nordgrenze nach Tadschikistan sei auch für die Taliban bislang noch schwer zu kontrollieren. Mit Turkmenistan hätten die Taliban schon vor ihrer Machtübernahme in Kabul Verhandlungen geführt. «Wohl auch, um eine Fluchtbewegung dorthin zu unterbinden», wie Schulze erläutert.

Wohl ähnlich viele Flüchtende wie 1978/79 aus Südvietnam

Wie viele Menschen Afghanistan verlassen werden, könne kaum jemand einschätzen. Die Zahlen der erwartenden Flüchtenden würden zwischen 300'000 und 3 Millionen schwanken.

«Nach der Eroberung von Saigon flohen zwischen 1978 und 1979 1,6 Millionen Menschen aus Südvietnam. Ich denke, das wird auch eine Zahl sein, die für Afghanistan gelten könnte.» Natürlich hänge alles auch davon ab, ob die Fluchtbewegung einen Sog auslösen werde. Und wie sich die innenpolitische Situation unter der Taliban-Herrschaft entwickeln werde.

Der Islamwissenschaftler nimmt an, dass eine erneute Fluchtwelle vor allem nach Iran und – sofern noch möglich – nach Pakistan die dort schon ansässigen Geflüchteten mobilisieren werde und es so zu einer Verschiebung komme: «Die früher Geflüchteten werden versuchen, Iran beziehungsweise Pakistan zu verlassen, während die Neuankömmlinge erhoffen werden, zunächst in den bestehenden Lagern unterzukommen.» Es sei in jedem Fall damit zu rechnen, dass sich die Fluchtmobilität verstärken werde.

«Eine plötzlich auftretende ‹Welle› wie 2015 ist nicht zu erwarten»

Und: «Das europäische Engagement in Afghanistan hat die europäischen Länder in eine so enge Beziehung zu Afghanistan gebracht, dass für viele Flüchtende es logisch erscheint, ein europäisches Land als Ziel ihrer Flucht anzustreben. Vor allem, weil weder im Iran noch in Pakistan und wohl schon gar nicht in Tadschikistan für die Geflüchteten irgendwelche Chancen auf eine Besserung ihrer Lebenssituation besteht, schon gar nicht für die Kinder und die jüngere Generation.»

Reinhard Schulze
Reinhard Schulze, emeritierter Professor für Islamwissenschaften an der Universität Bern. - keystone

Mit einer so extremen Flüchtlingswelle wie 2015, als Hunderttausende Menschen aus Syrien nach Europa flohen, rechnet Schulze nicht. Dafür unterscheide sich die Situation von heute deutlich von jener im Jahre 2015: «Die Fluchtwege aus Afghanistan sind sehr viel länger und vor allem auch schwieriger und komplizierter. Es wird einige Zeit dauern, bis sich fixe und erfolgreiche Fluchtrouten ergeben und durchgesetzt haben.»

Bereitet Ihnen die Situation in Afghanistan Sorgen?

Dennoch sei anzunehmen, dass in den nächsten Monaten die Zahl der aus Afghanistan geflüchteten Menschen in Europa kontinuierlich anwachsen werde. «Eine plötzlich auftretende ‹Welle› wie 2015 ist aber nicht zu erwarten. Je nach der innenpolitischen Entwicklung in Afghanistan kann sich dies aber – ähnlich wie in Südvietnam im Sommer 1978 – rasch ändern», sagt Schulze. Wenn die innenpolitische Situation in Afghanistan eskaliere, könne es in den nächsten Jahren immer wieder zu Fluchtbewegungen kommen.

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