Syriens Grauen: Das befreite Militärgefängnis Saidnaja
Mit dem Sturz von Baschar al-Assad werden in Syrien auch tausende Häftlinge aus dem berüchtigten Folter-Knast Saidnaja frei.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach dem Sturz Assads wurden Häftlinge seines berüchtigtes Militärgefängnis befreit.
- An einem Tag konnten 20'000 bis 50'000 Menschen gerettet werden.
- In Saidnaja seien «Tötungen nach industriellem Massstab» vorgenommen worden.
Um das unbeschreibliche Grauen greifbar zu machen, nutzten Ex-Häftlinge für das Militärgefängnis Saidnaja in Syrien einen besonderen Spitznamen: «Schlachthaus».
Wie kein anderes Gebäude im Land ist es zum Symbol geworden für den Horror der nun gestürzten Assad-Regierung. Auf «industriellem Massstab» sollen Assads Offiziere hier und in anderen Gefängnissen gefoltert und getötet haben.
Nach der Blitzoffensive der Aufständischen, angeführt von der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), kommen aus Saidnaja jetzt Tausende Menschen frei. Die Zivilschützer von den Weisshelmen schätzen, dass 20'000 bis 50'000 Häftlinge aus dem Gebäudekomplex nördlich der Hauptstadt Damaskus gerettet wurden. Dies an nur einem Tag. Bis zu 150'000 könnten dort inhaftiert gewesen sein – viele werden weiterhin vermisst.
Mit der Befreiung kommen neue Details ans Licht zu den Zuständen in Saidnaja. Nach Schätzungen der Weisshelme wurden wohl jeden Tag 50 bis 100 Menschen hingerichtet und dann in Öfen verbrannt.
Suche nach einem «Funken Hoffnung»
Für die Angehörigen beginnt eine fieberhafte Suche nach Hinweisen zu inhaftierten oder verschwunden Verwandten. Viele haben Jahre oder Jahrzehnte nichts von ihnen gehört.
Mohammed Abel Asis, der aus Aleppo nach Damaskus gekommen ist, suchte in Saidnaja etwa nach seinem Vater. Als die Sicherheitskräfte diesen im Jahr 2000 verhafteten, war Mohammed sieben Jahre alt. «Wir haben nach einem Funken Hoffnung gesucht», sagt er der Deutschen Presse-Agentur, vergeblich.
Einige, die mit leeren Händen vom Gefängnis heimkehren, halten danach symbolische Beerdigungen und Trauerfeiern ab. Andere wandern wie Schatten ihrer selbst in die unerwartete Freiheit, nach teils Jahrzehnten in Haft.
Der Nachrichtensender Al Jazeera zeigt einen Mann, der sich nach mutmasslich schwerster Folter nicht an seinen eigenen Namen erinnern kann. Andere, die noch zu Zeiten von Assads Vater Hafis inhaftiert wurden, erfahren, dass dieser im Jahr 2000 verstarb.
Der britischen Zeitung «Guardian» zufolge ist ein Ex-Pilot unter den Befreiten. Er hatte sich während eines Aufstands gegen Hafis al-Assad in den 1980er Jahren geweigert, die Stadt Hama zu bombardieren. Nun betritt er nach 43 Jahren ein völlig anderes Syrien.
«Tötungen auf industriellem Massstab»
Die Methoden der Offiziere von Armee und Sicherheitsbehörden müssen brutal gewesen sein. Der Jurist und frühere UN-Chefankläger David Crane, der Folterbilder des syrischen Überläufers «Caesar» sichtete, verglich sie mit der Nazi-Herrschaft. 2014 sprach er von «Tötungen auf industriellem Massstab».
Der Organisation Amnesty International zufolge gab es in Saidnaja einen Raum mit 30 Schlingen, um Häftlinge zu erhängen. Nach Angaben der US-Regierung war zudem ein Krematorium neben dem Hauptgebäude, um Leichen zu verbrennen. Auch Weisshelm-Leiter Raid al-Saleh sagt, er und sein Team hätten Leichen in Öfen entdeckt.
Bis zum möglichen Tod in dem Komplex müssen Häftlinge unzählige weitere Tode gestorben sein. Überlebende und frühere Aufseher berichteten Amnesty International von einer Menschenpresse. Diese sei «fliegender Teppich» bekannt gewesen.
Zudem habe es die «Reifen»-Methode gegeben. Opfer seien mit dem Kopf zwischen den Knien in einen Autoreifen gezwängt und dann geschlagen worden.
Häftlinge seien vergewaltigt und geprügelt worden, andere in Psychosen verfallen und in ihrer Zelle verstorben. Schon seit den 1970er Jahren existierten in Syrien Gefängnisse, in denen Oppositionelle verschwanden wie in schwarzen Löchern.
Verhaftet vor 30 Jahren – Befreiung als Grossvater
Die Assad-Regierung hatte die Vorwürfe als «haltlos» und falsch bezeichnet. Menschenrechtler schätzten dennoch, dass allein zwischen 2011 und 2018 mehr als 30'000 Häftlinge hingerichtet wurden oder nach Folter starben. Zivilschützer und Angehörige, die in diesen Tagen nach angeblich versteckten unterirdischen Zellen suchen, könnten noch weitere grauenvolle Entdeckungen machen.
Die Befreiten bemühen sich, im neuen Leben Fuss zu fassen. Suhail Hammuji wurde vor mehr als 30 Jahren verhaftet und verbrachte etwa die Hälfte der Zeit in Saidnaja.
«Wir lebten Stunde für Stunde. Die grösste Sorge war, am Leben zu bleiben», sagt er der dpa nach seiner Rückkehr in sein Heimatland Libanon. «Als ich ins Gefängnis kam, hatte ich einen zehn Monate alten Sohn. Mein Sohn ist jetzt, nach meiner Rückkehr, verheiratet, und ich bin ein Grossvater.»