Thierry Frémaux: Das Kino wird noch stärker zurückkommen
Normalerweise würde Thierry Frémaux in diesen Tagen Filmstars aus der ganzen Welt beim Festival in Cannes begrüssen. Doch jetzt, in Zeiten von Corona, muss er sich den neuen Herausforderungen stellen.
Das Wichtigste in Kürze
- Keine Filmstars, kein roter Teppich, keine Premieren: Auch das Festival Cannes ist von der Corona-Krise betroffen und findet nun nicht wie sonst üblich im Mai statt.
Ursprünglich hätte es am Dienstagabend (12.5.) in Südfrankreich eröffnet werden sollen. Stattdessen muss der künstlerische Leiter Thierry Frémaux umdenken. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erzählt der 59-Jährige, welche Ideen er nun für das Festival hat.
Frage: Eigentlich würden wir uns nun alle beim Filmfest treffen. Was sind die derzeitigen Pläne für das Festival?
Antwort: Angesichts der Epidemie war es naheliegend, das Festival abzusagen, aber (Festivalpräsident) Pierre Lescure und ich wollten nicht erst 2021 weitermachen und diejenigen im Stich lassen, die auf uns zählten. Deswegen haben wir beschlossen, nun weiterzumachen, damit das Festival zu dem beitragen kann, was als nächstes kommt. Die Gesundheitskrise ist etwas Dramatisches, aber wir dürfen die Rückkehr ins Leben nicht verpassen. Und Cannes will ein wesentlicher Teil dieser Genesung sein. Wir werden daher Ende Mai eine offizielle Auswahl bekannt geben, um zu sagen, welche Filme wir gesehen und gemocht haben, um so deren Veröffentlichung in Kinos und bei Festivals zu erleichtern. Dann veranstalten wir eine Online-Version des Filmmarktes. Und Mitte Juni wollen wir den Plan «Cannes Outside the Walls» vorstellen mit den Filmen, die wir unterstützen, in Frankreich und im Ausland.
Frage: Es gibt Gerüchte über eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Festival in Venedig. Können Sie das bitte kommentieren?
Antwort: Dies sind keine Gerüchte, sondern ein sehr starker gemeinsamer Wunsch. Es kam die Frage auf, ob man Cannes auf September verschieben könnte, aber wir würden nicht einfach in die Mostra-Termine passen. Nun sprechen wir darüber, uns alle am Lido zu treffen, im Namen des Weltkinos, um die gleichen Filme zu unterstützen. Eine aussergewöhnliche Situation erfordert eine aussergewöhnliche Reaktion.
Frage: Sie haben einen Online-Markt für Ende Juni angekündigt. Was ist die Idee dahinter?
Antwort: Profis, die Filme verkaufen und kaufen, müssen sich zusammentun, um sich auf die Zukunft vorzubereiten, also 2021. Normalerweise ist der Marché du Film Profis vorbehalten. So ein Markt ist ein Ort, an dem Filme, Ausschnitte, Trailer und ganze Filme ausgetauscht werden. Dies aber wird kein normales Festival mit Presse, Gästen und Publikum sein. Trotzdem werden die Verleiher die Filme natürlich der Presse zeigen, wenn sie dann veröffentlicht werden. Denn dann brauchen sie Unterstützung. Eine der grössten Herausforderungen für die Filmwelt ist die Rückkehr von Filmen und Publikum in die Kinos auf der ganzen Welt.
Frage: Ist eine Online-Version des Filmfestivals auch eine Option?
Antwort: Nein. Kann mir jemand erklären, wie ein digitales Festival aussehen würde? Wer wäre das Publikum? Wie würden wir es zeitlich und räumlich organisieren? Würden die Filme, die Autoren, die Produzenten zustimmen? Wie würden wir Piraterie bekämpfen? Wie wären die finanziellen Bedingungen? Würden die gezeigten Filme in die Kinos kommen? Journalisten sprechen gerne von einem «digitalen Festival», aber man muss darauf hinweisen, dass das nur für Filme funktioniert, die nur eine Karriere über das Internet hätten, gerade weil sie keine Chance im Kino gehabt hätten. Das jedoch ist weit weg von Cannes' Geist.
Frage: Was ist das persönlich für ein Gefühl, mit einer solchen Situation umzugehen?
Antwort: Wir sind Profis. Ich habe gleich Ende Februar verstanden, dass die Lage sehr ernst ist und dass Cannes bedroht sein würde. Ich habe mich immer auf das Schlimmste vorbereitet... und das Schlimmste ist eingetreten. Aber ein Festival abzusagen ist nicht dasselbe wie wenn man den ganzen Tag in einem Krankenhaus kämpft, um Kranke zu behandeln. Ich bin nicht frustriert, ich bin ein Kämpfer.
Frage: Was werden Sie am meisten vom Festival vermissen?
Antwort: Cannes ist ein aussergewöhnlicher Ort, zwei Wochen lang wie eine andere Welt. Das Festival ist das erste Event des Sommers, das Wiedersehen mit Freunden. Es war ein grosses Privileg, ein Festivalbesucher zu sein, es ist ein grosses Privileg, es zu führen. Aber man muss vernünftig und kämpferisch zugleich sein. Was ich am meisten vermissen werde, sind die Vorführungen, die Kontakte zu den Künstlern, das Urteil der Presse, der Applaus, die Gerüchte, die Diskussionen, die Streitigkeiten, kurz gesagt, das Kino!
Frage: Was bedeutet Ihrer Meinung nach die derzeitige Situation für die Filmindustrie weltweit?
Antwort: Ich denke, dass diese globale Epidemie, die niemanden verschont hat, die Veränderung der Welt beschleunigen wird... und die des Kinos. Persönlich, als Bürger, würde ich mir wünschen, dass es ein echtes Bewusstsein gibt, vor allem in ökologischen und Klima-Fragen. Wir konnten die Wirtschaft durch ein Virus zerstören. Wir fordern nicht, dasselbe wegen des Klimas oder der Kriege und des Hungers in der Welt zu tun, aber wir können es besser machen. Wir können mehr tun, nicht wahr? Das Kino befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, wir müssen diese Krise nutzen, um der Zukunft zu begegnen. Die Verkündung, dass das Kino tot ist, ist nicht neu, aber wir wissen ganz genau, dass sie nicht wahr ist. Medien sprechen zwar lieber über (Streaming-)Plattformen, und das ist auch alles sehr gut, weil sie überall ein Hit sind. Aber die Kinos sind geschlossen. Stellen wir uns doch für eine Sekunde die gegenteilige Situation vor: Ein Computervirus legt alle Bildschirme lahm. Dann würden die Leute sofort in die Kinos eilen, wir hätten wieder die 450 Millionen Zuschauer von 1947 und sogar noch mehr! Was wir nun aber sehen ist leider das Gegenteil: Das Kino ist «geschlossen» und die Streamingplattformen reissen die Szene an sich. Nach dem wunderschönen Jahrgang 2019 hat das Kino das nicht verdient, ausgerechnet in seinem 125. Jubiläumsjahr! Aber es wird noch stärker zurückkommen. Wir sehen uns 2021 in Cannes.
ZUR PERSON: Der 59-jährige Franzose Thierry Frémaux ist seit 2014 der künstlerische Leiter des Festivals in Cannes. Das Filmfest Cannes zählt neben Berlin und Venedig zu den wichtigsten Festivals der Branche. Als Hauptpreis wird die Goldene Palme für den besten Film vergeben.