Coronavirus: «Gibt es eigentlich auch Leugner im Kosovo?»
Zurück in die Heimat reisen, die Familie sehen: das war während der Coronapandemie für viele Menschen unmöglich – auch für Nau-Kolumnistin Shqipe Sylejmani.
Das Wichtigste in Kürze
- Was hatte Corona mit den Menschen gemacht? Wie waren sie mit der Pandemie umgegangen?
- Und welchen Einfluss hatte die Schweiz auf die Coronasituation im Kosovo?
- Das alles beschreibt Shqipe Sylejmani in ihrer Kolumne nach ihrer Reise in den Kosovo.
Wenn ich vor einigen Jahren allein nach Kosovo reiste, wusste ich, ich würde sofort aus «Ausländerin» in meiner alten Heimat auffallen. Ich weiss nicht, ob es meine Art, mich zu kleiden, meine Mimik oder meine Art es waren, die mich verrieten. Meistens kam es dann vor, dass ich im Gespräch mit den Taxifahrern demütig zugab, im Ausland zu leben und ihren Geschichten lauschte, während sie unnötigerweise eine grössere Runde um die Stadt fuhren, um noch 50 Cent mehr für die Fahrt zu erhalten.
Es spielte für mich keine Rolle, denn ich kannte es nicht anders. Die Menschen wussten auf Anhieb, dass ich aus einem «reichen Land» kam und mein schlechtes Gewissen, dem Krieg, der Armut und der Chancenlosigkeit entkommen zu sein, nahm dieses Verhalten der Einheimischen gerne hin.
Während der Coronapandemie erlebte der Kosovo etwas, was seit dem Ende der Neunzigerjahre nicht mehr vorgekommen war: die Diaspora durfte nicht mehr zurückreisen. Monatelange Lockdowns, beschränkte Einreisemöglichkeiten und die Angst vor dem Virus und Ansteckungen gestalteten eine Rückreise als unmöglich.
Beistand der Diaspora
Die damals politische Instabilität des Landes sorgte dabei dafür, dass die kosovarische Bevölkerung der Mittel- und Unterschicht an ihre finanziellen Grenzen gerieten. Die Diaspora versuchte aus der Distanz zu helfen, wo sie konnte, schickte Gelder und Waren und boten vielen Familien Hilfe an, wo es diese brauchte.
Die Coronapandemie erinnerte mich an die Zeit damals, als wir Sorge trugen um unsere Familien in der Heimat und versuchten, mit allen Mitteln zu helfen, wo wir konnten. Nur, dass dieses Mal die ganze Welt von der Pandemie betroffen war.
«Wir haben euch vermisst.»
Als ich vor ein paar Wochen wieder in den Kosovo reiste, war ich gespannt darauf, wie es den Menschen ergangen war. Ich hatte seit der Öffnung der Grenzen schon einige Reisen nach Prishtina unternommen, doch waren damals die Bestimmungen sogar härter als in der Schweiz gewesen: die Maskenpflicht galt drinnen wie auch draussen, ab 21:00 Uhr war Sperrstunde und Ausgehverbot und die Polizei griff mit hohen Bussen bei ständigen Kontrollen hart durch.
Seit einigen Monaten hatte die Regierung jedoch die Massnahmen weitgehendst gelockert und die Bevölkerung genoss auch wieder die Besuche ihrer Familienmitglieder, die aus der Diaspora zurück in die Heimat kamen.
Anders als sonst fuhr ich dieses Mal mit dem Taxi in die Stadt. «Es ist so schön, dass ihr wieder aus dem Ausland einreist. Wir haben euch vermisst», sagte der ältere Mann und strahlte mich dankbar an. «Wäre die Diaspora nicht gewesen, hätten wir diese Pandemie niemals so gut überstanden», meinte er und erzählte mir, wie seine Verwandten im Ausland ihm und den anderen Familien in seinem Dorf Geld geschickt hatten und wie viele Menschen abhängig von den Spenden der Diaspora gewesen waren.
«In einer Welt ohne meine Familie zu leben, ist auch kein Leben.»
«Dies ist eine weltweite Pandemie», antwortete mir einer der Bücherverkäufer am Mutter-Teresa-Boulevard einige Tage später auf meine Frage hin, ob er sich vor dem Virus fürchte, «und Vorsicht ist gut und wichtig. Wir müssen uns schützen, zusammenhalten, denn es sind viel zu viele Menschen von uns gegangen. Aber wir haben schon schlimmeres durchgestanden und werden auch das überleben. Angst und Panik verbreiten hilft keinem. Und wie Skenderbeu schon damals sagte: Zusammen ist man stärker. Der Zusammenhalt der Familie war gerade in solchen Zeiten das Wichtigste.»
Die grosse Angst, Familienmitglieder anzustecken, sei auch im Kosovo sehr lange weit verbreitet gewesen. Doch die Trennung von der Familie habe den Menschen weitaus mehr zugesetzt, und so habe man sich an die eigenen Grundwerte zurückerinnert. «In einer Welt ohne meine Familie zu leben, ist auch kein Leben», sagte er, bevor er sich den nächsten Kunden zuwandte. Ich erinnerte mich daran, wie ich in der Schweiz bei Ausbruch der Pandemie meine Familie wochenlang nicht besuchte, um sie zu schützen. Und wie ich darunter litt, sie nicht sehen zu können.
Corona heute
«Gibt es Coronaleugner hier?», fragte ich eine Freundin von mir, die in Prishtina eine PR-Agentur leitet. «Ich glaube, die gibt es überall. Aber Fakt ist: es gibt Gesetze. Und hier halten sich die meisten Leute daran. Keiner kann es sich leisten, 50 Euro Busse zu bezahlen, weil er die Maske nicht trägt. Viele haben der Regierung Vorwürfe gemacht, dass sie die Impfstoffe nicht früh genug organisieren konnten. Ein Grossteil der Bevölkerung versucht mit allen Möglichkeiten, die Pandemie so gut es geht zu bekämpfen. Aber natürlich gibt es auch immer Ausnahmen.»
Wir schlenderten durch die Strassen Prishtinas und beobachteten die Menschen. Voller Lebensfreude und Tatendrang gingen sie ihrem Alltag nach. Aus den Restaurants ertönten Schweizer Dialekte von den Reisenden, die es endlich in die alte Heimat geschafft hatten.
«Wie ist es eigentlich bei euch in der Schweiz?», fragte mich meine Freundin und ich versuchte, die Situation um Corona, Impfungen und Zweifeln zu beschreiben und wie schwer dieses Thema zu greifen war.
«Ich weiss ja nicht, wie ihr es in der Schweiz erlebt. Aber für uns ist die Schweiz ein Vorbild. Gerade in der Pandemie war sie das Land, dass seine Bevölkerung schützte, Hilfe bot und sogar andere Länder, wie uns, zur Seite stand! Wenn es jemand schafft, eine solche Krise zu bewältigen, dann die Schweiz», meinte sie zuversichtlich.
Und da konnte ich ihr nur zustimmen.
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Shqipe Sylejmani ist als Kolumnistin bei Nau.ch tätig, wo sie über das Leben in zwei Welten schreibt. Die in Prishtina geborene Journalistin und Kommunikationsberaterin veröffentlichte im Oktober 2020 ihren ersten Roman «Bürde & Segen».