Shqipe Sylejmani: Bist du für Schweizer Nati oder für «dein» Land?
Das Wichtigste in Kürze
- Im Kader der Schweizer Nati sind viele Spieler mit Migrationshintergrund.
- Das sorgt bei vielen Fans immer wieder für Gesprächsstoff.
- Nau.ch-Kolumnistin Shqipe Sylejmani über Politik, die zum Sport dazugehöre.
- Die Schweizer Nati spielt am Montag (21 Uhr) den EM-Achtelfinal gegen Frankreich.
Es fühlte sich für mich wie ein Heimspiel an: Ich konnte einfach nicht verlieren. Ganz nach dem Motto «rot ist rot» erstrahlten die Fahnen im Stadion, manche mit einem weissen Kreuz darauf, die anderen mit dem schwarzen Doppeladler.
«Duell der Brüder» nannten viele dieses angespannte Spiel an der Europameisterschaft 2016 in Lens (FR), an dem die Schweiz gegen Albanien antrat. Treffender hätte man dieses Duell auch nicht benennen können und das nicht nur wegen der zwei Brüder Granit und Taulant Xhaka, die gegeneinander um den Sieg kämpfen würden.
Für wen bist du?
Wie an jedem grossen Turnier werden zurzeit viele Schweizerinnen und Schweizer mit Migrationshintergrund und auch ich mit einer Frage konfrontiert: «Bist du für die Schweiz oder für ‹dein› Land?»
Es gibt kaum eine Frage, die einen mehr zwingt, seine gesamte Identität zu definieren. Denn wenn wir ehrlich sind, hat Sport – entgegen allgemeiner Haltung – sehr viel mit Politik zu tun. Diese Frage ist ein hervorragendes Beispiel dafür.
Die Antwort deutet für viele ein Bekenntnis an. Steht jemand zur Schweiz oder zu seinen Wurzeln? Als ob es nur das eine oder das andere gäbe. Die Frage zielt auf das Zugehörigkeitsgefühl ab, ja fast schon auf ein Liebesgeständnis. Man könnte mich auch genauso gut fragen, wen ich lieber mag, meinen Vater oder meine Mutter.
Hochemotionale Identitätsfrage
Ich erinnere mich daran, wie Ivan Rakitic sich 2007 gegen die Schweiz und für die kroatische Fussballnationalmannschaft entschied und welcher Aufschrei damals durchs Land ging. Dies, nachdem sich bereits Mladen Petric 2002 ebenfalls für Kroatien entschieden hatte. Man sprach von Enttäuschung und sogar Verrat – die gigantischen Erwartungen beider Länder an die jungen Spieler waren dabei Nebensache.
Erst vor ein paar Jahren sagte Petric zum «Tages-Anzeiger», dass diese Entscheidung für jeden Spieler immer hochemotional sei und man seine Identität nicht einfach ausradieren könne. Und: «Keiner spielt für ein Land, dass ihm nichts bedeutet!» Genau dies ist für mich der springende Punkt.
Jeder Spieler in unserer Nationalelf, der von einer solch weitreichenden, emotionalen und identitätsdefinierenden Entscheidung gestanden ist, hat die Schweiz gewählt. Daher ist für mich die Antwort auf die Frage, für welche Mannschaft ich bin, obwohl in meiner Brust zwei Herzen schlagen, sehr einfach: Ich bin für die Schweiz.
Die berühmten «zwei Herzen in einer Brust»
Denn sehe ich die Schweizer Nationalmannschaft, erkenne ich unsere Bevölkerung darin verkörpert. Sie ist genauso vielfältig, bunt und offen wie unser wunderbares Land auch. Umso mehr schmerzt es mich daher wahrlich, wenn ich immer lautere, kritische Stimmen wahrnehme, welche die Spieler mit einem «Echtheitszertifikat» dokumentiert sehen wollen.
Dafür, dass die Schweiz mit ihren vier Landessprachen und besonders durch ihre Entstehungsgeschichte der Inbegriff der Vielfalt sein könnte, wird an Spieler und Fans eine ungeheure Erwartung geschürt. Was bedeutet das eigentlich, zwei Herzen in einer Brust haben?
Zum einen, dass man nirgendwo wirklich «zu Hause» ist, weil man in beiden Welten als fremd erachtet wird. Zum anderen, dass man immer das eine im anderen vermisst. Vielmals auch, dass man sich für so ziemlich jede Entscheidung rechtfertigen muss – wie beispielsweise, für welche Nationalmannschaft man mitfiebert. Für die meisten heisst es vor allem, beiden Welten unsere Gemeinsamkeiten versuchen aufzuzeigen, statt die Unterschiede zu betonen.
Ein Tag für die Ewigkeit
Aber zurück zum 11. Juni 2016, kurz vor 15 Uhr in Lens, Frankreich, und meinem Spiel aller Spiele: Schweiz gegen Albanien. Gleich nach der Auslosung der Gruppenspiele überschlugen sich die Schlagzeilen um das Duell der beiden Länder, mit migrierten Albanern in der Schweizer Mannschaft und ausgebildeten Schweizern in der albanischen.
Die Stimmung wurde medial aufgebauscht, man befürchtete Schlimmes und ganz Europa blickte gespannt auf den Kampf, bei welchem zum ersten Mal an einer Europameisterschaft zwei Brüder gegeneinander antreten würden.
Fünf Minuten nach dem Anpfiff fiel das erste und entscheidende Tor: Xherdan Shaqiri legte vor, Fabian Schär haute rein. Ein schöneres Sinnbild hätte es kaum geben können! Das Spiel blieb spannend (zum Glück war ich im Stadion und hörte Sascha Ruefers Kommentare nicht), der Schlusspfiff ertönte und mit dem Ende der Action auf dem Fussballfeld begann das eigentliche Fest auf den Rängen, das bis auf die Strassen von Lens und Zürich weitergezogen wurde.
Dort nämlich fanden Schweizer und Albaner zusammen, sangen, tranken, tanzten brüderlich Arm in Arm und feierten diesen – unseren – Sieg. Ich hatte ja gewusst, dass ich an diesem Tag einfach nicht verlieren konnte.
Wer kommt weiter?
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Shqipe Sylejmani ist als Kolumnistin bei Nau.ch tätig, wo sie über das Leben in zwei Welten schreibt. Die in Prishtina geborene Journalistin und Kommunikationsberaterin veröffentlichte im Oktober 2020 ihren ersten Roman «Bürde & Segen».