Claude Longchamp rechnet mit Ja zur «Ehe für alle»
Am 26. September stimmt die Schweiz über die «Ehe für alle» ab. Allgemein erwarte Politologe Claude Longchamp ein Ja, schreibt er im Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine der zwei Abstimmungsvorlagen im September ist die «Ehe für alle».
- Die Schweiz ist eines der letzten Länder Westeuropas, das homosexuelle Ehen nicht erlaubt.
- Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels in Richtung Liberalismus wird ein Ja erwartet.
Gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare ist ein Megatrend des 21. Jahrhunderts. Hauptsächlicher Grund ist die Ausbreitung von Werten der Selbstentfaltung, namentlich in Staaten mit hoher Wirtschaftsleistung, verbreiteter Mittelschichten und «protestantischer» Kultur.
In Europa wies die liberale Niederlande im Jahre 2000 den Weg. 2015 setzte auch das katholische Irland ein markantes Zeichen. Noch fehlt der Osten des Kontinents. Und die Schweiz.
Der zweite Anlauf
Ein erster Anlauf, initiiert von den Grünen, hierzulande scheiterte 1999 im Parlament. 2013 starteten die Grünliberalen den zweiten Versuch für die Ehe-Öffnung.
Am 18. Dezember 2020 stimmte die Bundesversammlung in der Schlussabstimmung einer Änderung des Zivilgesetzbuches zu. Sie soll die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren öffnen und Frauenpaaren die medizinisch unterstützte Fortpflanzung ermöglichen – wenn auch nicht ganz im gleichen Umfang wie für Frauen in Ehen mit einem Mann.
Im Nationalrat stimmten 136 Volksvertreter:innen für die «Ehe für alle», 48 dagegen. Im Ständerat waren am Ende 24 auf der Ja-Seite, 11 auf im Nein-Lager. Parteipolitisch sagten die EDU und die Mehrheit der SVP-Vertreter:innen Nein. Die CVP war gespalten. Bei SP, FDP, Grünen und GLP resultierte ein klares Ja.
Ein Referendumskomitee, aus SVP und weiteren konservativen Politiker:innen bestehend, sammelte die nötige Unterschriften. Deshalb kommt es zur Volksabstimmung. Da es sich um eine Gesetzesrevision handelt, braucht es kein Ständemehr.
Der generelle Konflikt
Der Konflikt spiegelt das politische Spektrum zwischen skeptischen Traditionalist:innen und Liberalen, offen für Veränderungen. Toleranz für und Stolz auf Neues stehen auf der einen Seite, Konformität und Abscheu auf der andern.
In der Sprache der Politik tönt es sachlicher: Zentral für die Entscheidung der Behörden ist die Gleichbehandlung für alle Personen, unabhängig von der sexuellen Orientierung: Der Staat solle Bürger:innen nicht vorschreiben, wie sie ihr familiäres und Privatleben zu Gestalten hätten. Ihre Widersacher sind nicht gegen Gleichberechtigung, argumentieren aber häufig mit natürlichen Grenzen.
Zentral dürfte dabei die Konfliktlinie zwischen gesellschaftsliberalen und –konservativen Werten werden. Frauen, Jüngere, besser Gebildete, Konfessionslose sowie Städter:innen dürften verstärkt auf der Ja-Seite stehen. Das gilt bei Männern, älteren Menschen, unteren Bildungsschichten, stark religiösen Bürger:innen und Landleute weniger.
Gründe für den Wandel in der Schweiz
Die letzte Umfrage zur gleichgeschlechtlichen Heirat vor der Parlamentsentscheidung zeigte unter den entschiedenen Stimmberechtigten 82 Prozent Befürworter:innen und 18 Prozent Gegner:innen.
Das war der höchste je gemessene Zustimmungswert zur «Ehe für alle». Geringer, aber immer noch mehrheitlich positiv war die Zustimmungszahlen bei den umstrittensten Bestandteilen der Vorlage, der Adoption und der Samenspende.
Laura Eigenmann, Doktorandin zur Queer-Bewegung in der Schweiz, nennt drei Gründe für den Wandel:
– Zuerst habe die Aids-Epidemie die Kooperation der Schwulen- und Lesbenbewegung mit staatlichen Stellen gebracht. Aus Aussenseiter:innen wurden Partner:innen.
– Zwischenzeitlich habe eine kritische Grösse vergleichbarer Staaten die gleichgeschlechtliche Ehe mit Erfolg erfolgreich eingeführt, was den Druck auf Staaten wie die Schweiz verstärke.
– Schliesslich habe insbesondere die Ausbreitung von Social Media dazu geführt, dass neue soziale Bewegungen ihre eigenen Identitäten entwickeln und mit Vorbilder und durch Vernetzung deutlich machen konnten.
Potenzialschätzung sieht Ja Mehrheit
Doch ist das noch nicht das Abstimmungsergebnis: In den kommenden drei Monaten ist zu erwarten, dass die Gegnerschaft aus der Reserve gelockt und die Deutungshoheit der Befürworter:innen in Frage stellen wird.
Eine Schätzung des Zustimmungspotenzials für die «Ehe für alle», die nicht auf Umfragen basiert, legte einen finalen Ja-Wert von plus/minus 56 Prozent nahe (siehe Kasten). Vorausgesetzt wird, dass es keine ausserordentlichen Ereignisse und Kampagnen gibt.
Selbstredend ist zudem mit einer politischen Polarisierung analog zum Parlament zu rechnen. Recht offen ist allerdings die Positionierung der neuen Partei «Die Mitte». Das Präsidium empfiehlt genauso wie die Jungpartei Zustimmung. Ausstehend ist aber die Entscheidungen der Kantonalparteien und die finale Parolenfassung der Mutterpartei. Von Unterschieden zwischen liberalen und konservativen Teilen der Partei ist auszugehen. Eine klare Ja-Parole beschlossen hat jüngst die FDP Schweiz.
Definitiv im Nein-Lager sind die EVP und die EDU, während sich die SVP noch nicht definitiv entscheiden hat. Anders als bei der Mitte sind hier die Präsidenten der Mutter- und Jungpartei auf der Nein-Seite. Symptomatisch für die vorläufige Positionierung im Nein ist der Meinungswandel von Roger Köppel, der im Parlament dafür war, nun eine Kampagne dagegen fährt.
Lehren aus der Referenzabstimmung
Die wichtigste Referenzabstimmung im unmittelbaren Vorfeld fand im Februar 2020 statt. Damals sagten 63 Prozent Ja zum Diskriminierungsverbot aufgrund sexueller Orientierungen. Dagegen waren die SVP und die EDU, während sich die EVP damals der Stimme enthielt. Die CVP wie auch die BDP (heute gemeinsam in der Mitte) befürworteten die Anti-Diskriminierungs-Vorlage.
Die Nachanalyse zeigte, dass das Ja ein Bekenntnis zu einer toleranten Gesellschaft war. Die Sympathisierenden der Grünen, der SP und der GLP nahmen die Vorlage deutlich an. Die Basis der SVP stimmte ihrerseits mehrheitlich dagegen. Knapp waren die Zustimmungsraten bei den Anhängerschaften von CVP und FDP. Mit Elite/Basis-Konflikten im bürgerlichen Zentrum ist damit zu rechnen.
Das ist politisch gesprochen vordergründig vergleichbar mit der Konstellation beim CO2-Gesetz. Allerdings fehlt bei der «Ehe für alle» die wirtschaftliche Interessenlage, welche die damalige Nein-Kampagne Gesetz deutlich verstärkte.
Erwartete Meinungsbildung
Die Meinungsbildung unter den Stimmberechtigten startet wohl mehrheitlich im Ja. Im Normalfall nehmen dann Ja- und Nein-Lager zu, was für ein abschliessendes Ja spricht. Im Ausnahmefall kommt es aber zu einem Meinungsumschwung im anfänglichen Ja-Lager, was den Ausgang offener erscheinen lässt.
Nicht übersehen sollte man dabei, dass die CVP 2013 ihre Familieninitiative zu Abstimmung brachte. Unterstützt von der SVP wollte sie die Ehe-Definition ausschliesslich auf Mann und Frau beschränken. Das Anliegen wurde nur knapp verworfen.
Frühe Ja-Offensive im beginnenden Abstimmungskampf
Der aktuelle Abstimmungskampf hat eben erst begonnen.
Die Behörden werden durch Bundesrätin Karin Keller-Sutter repräsentiert, die ihrerseits noch vor der Sommerpause den befürwortenden Standpunkt von Regierung und Parlament begründete. Für sie existieren Kinder, welche mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, heute schon jetzt. Expert:innen würden von «mehreren Tausend Kindern» ausgehen. Zudem sei für die Entwicklung des Kindes nicht die Familienkonstellation entscheidend, sondern die Fürsorge und Zuwendung.
Die Ja-Seite startete ihre Offensive zuerst. Die zivilgesellschaftliche Ebene im Ja-Lager repräsentiert «Operation Libero» mit einer eigenen, auf Social Media ausgerichteten Kampagne. Zentral ist ihr Anliegen, dass sich auch in der Schweiz «love is love» durchsetze.
Ende Juni wurde die eigentliche Ja-Kampagne in 23 verschiedenen Orten der Schweiz gleichzeitig lanciert. Damit wollte man bewusst die verschiedensten Bevölkerungskreise begrüssen.
Die Nein-Seite hatte einen ersten Höhepunkt bei der Einreichung der Referendumsunterschriften. Sie rekrutiert vor allem konservative und religiöse Kreise, die sich vor allem an der Samenspende stossen, teils aber auch die Ehe auf Mann und Frau fixieren wollen. Erwartet wird, dass sie sich auf das Kindswohl stützen werden.
Dabei können sich die Gegner:innen auf das Sekretariat stützen, das die Abstimmung zum Verhüllungsverbot anfangs Jahr gewann. Damals war die Kampagne kurz und heftig – und zeigte Wirkung.
Umfragen zu frühen Stimmabsichten liegen noch keine vor. Dennoch kann man festhalten, dass allgemein ein Ja erwartet wird. Die Schweiz würde damit ihren gesellschaftlichen Konservativismus überwinden und den kulturellen Wandel der meisten westlichen Länder nachvollziehen.