Longchamp: Ausgang der Pflegeinitiative «dank» Corona offen
Das Wichtigste in Kürze
- Die Pflegeinitiative wurde 2017 eingereicht, am 28. November wird über sie abgestimmt.
- Der Ausgang sei offen, sagt Politikwissenschafter Claude Longchamp.
- Weil die Mitte Stimmfreigabe beschlossen habe, seien vor alle diese Stimmen entscheidend.
Die Pflegeinitiative verlangt von Bund und Kantonen, die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung anzuerkennen und zu fördern. Der Zugang zu einer Pflege von hoher Qualität soll für alle Menschen garantiert sein. Bund und Kantone sollen sicherstellen, dass genügend diplomierte Pflegefachpersonen zur Verfügung stehen.
Zudem sollen die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen arbeiten können, damit die Pflegequalität nicht leidet. Schliesslich soll der Bund die Arbeitsbedingungen in den Spitälern, Heimen und Spitex-Organisationen verbindlich regeln.
Eingereicht wurde die Volksinitiative mit rund 114’000 gültigen Unterschriften. Gesammelt wurden sie unter Leitung des Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK.
Die Behördenposition
An der Initiative kritisieren die Behörden namentlich die Abrechnung pflegerischer Leistungen durch die Pflegepersonen. Insbesondere die Krankenkassen befürchteten, dass dies eine Ausweitung verbunden mit Mehrkosten und höheren Prämien zur Folge haben könnte. Ebenfalls auf Widerstand stiess die Initiative bei den Verbänden der Spitäler, Spitex und Altersheime.
Obwohl sie die Ziele der SBK teilten, hielten sie die Initiative nicht für zweckmässig, da sie der Privilegierung einzelner Berufe in der Verfassung kritisch gegenüberstünden und befürchteten, dass die Kantone Einfluss an den Bund verlieren könnten. Daher forderten die Kassenverbände einen Gegenvorschlag.
Bundesrat und Parlament stellen der Initiative einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber. Die Aus- und Weiterbildung soll während acht Jahren mit bis zu einer Milliarde Franken gefördert werden. Pflegefachpersonen sollen gewisse Leistungen direkt abrechnen können, wobei ein Kontrollmechanismus verhindern soll, dass dadurch die Gesundheitskosten und die Krankenkassenprämien steigen. Der Gegenvorschlag tritt in Kraft, wenn die Initiative abgelehnt und das Referendum nicht ergriffen wird.
In der parlamentarischen Schlussabstimmung waren die ablehnenden Mehrheiten recht klar. Der Nationalrat war mit 74 zu 116 dagegen, der Ständerat mit 14 zu 30. In der grossen Kammer enthielten sich 6 Volksvertreter:innen, die Hälfte davon aus der Mitte-Fraktion.
Die anstehende Volksabstimmung
Am 28. November wird über drei Vorlagen ab. Man kann annehmen, dass das Covid-19-Referendum im Zentrum stehen wird. An zweiter Stelle dürfte die Pflegeinitiative sein. Auch diese Initiative wird durch die Grosswetterlage begünstigt, und die Erwartungshaltung ist, dass es knapp wird. Allerdings ist beides weniger akzentuiert der Fall als beim Covid-19-Gesetz.
Parolen haben bisher die SP, die GPS und die EVP gefasst. Sie sind alle im Ja-Lager. Eine Stimmfreigabe hat Die Mitte entschieden. Das ist anders als im Parlament, wo die Partei überwiegend auf der ablehnenden Seite war. Die FDP hat die Nein-Parole beschlossen, dasselbe wird von der SVP erwartet. Zu frühen Gegner:innenschaft gehören namentlich die Kantone und die Krankenkassen.
Die erwartete Spaltung der Parteienlandschaft ist primär ökonomischer Natur, mit einer staatsnahe Linken und einer staatskritischen Rechten. Dabei gibt es erfahrungsgemäss Unterschiede in den Sprachregionen. Denn die Gesundheitspolitik gehört in der Suisse Romande auch für Teile der Bürgerlichen zu den Hauptaufgaben des Staates.
Das Umfeld der anstehenden Abstimmung wird durch die Corona-Krise geprägt. Sie hat die Schweiz politisiert, was sich in überdurchschnittlichen Beteiligungsquoten ausdrückt. Mit Blick auf die kommende Dreier-Abstimmung sollte man von einer Teilnahmequote von 50% plus ausgehend. Dabei gilt, dass misstrauische Kreise etwas überdurchschnittlich mobilisiert sind.
Die aktuelle Stimmungslage bleibt durch Corona bestimmt. Sie ist skeptisch, ausgelöst durch die Entwicklung bei den Infizierungen, Hospitalisierungen, Intensivstationen und Corona-Toten. Hinzu kommt die Impfquote. Vor allem von rechts gibt es eine eigentliche Misstrauenswelle, welche bis in die SVP reicht.
Der beginnende Abstimmungskampf
Der Abstimmungskampf hat bereits begonnen. Dabei ist die Ja-Seite wenigstens für den Moment aktiver. Sie ist auch deutlich früher gestartet als ihre voraussichtlichen Widersacher.
In den Vordergrund gerückte Botschaft der Ja-Seite sind:
• Mehr Pflegende ausbilden – Bildungsoffensive starten
• Berufsausstiege verhindern – Arbeitsbedingungen verbessern
• Pflegequalität sichern – genügend Pflegende garantieren
Präsentiert werden erste Testimonials, eine Kampagne zu mitmachen und einen Newsletter zum Abonnieren. Ein werberisches Pendant auf der Nein-Seite gibt es noch nicht.
Im Abstimmungskampf dürfte der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments eine Rolle spielen. Er erlaubt es, der Gegnerschaft nicht mit leeren Händen für ein Nein einzustehen. Materiell unterscheiden sich die beiden Ansätze namentlich bei den Arbeitsbedingungen und der Abgeltung von Pflegeleistung.
Der Gegenvorschlag will hier nichts ändern. Dafür ist er, bei einem Nein zur Volksinitiative, direkt umsetzbar, wenn kein Referendum ergriffen wird. Er würde der Pflege rund 1 Mia. CHF bringen. Steigen die Kosten überdurchschnittlich, können die Kantone Einschränkungen beschliessen.
Denkbare Abstimmungsausgänge
Umfragen liegen vorerst keine vor. Gemäss Dispositionsansatz kann man aber annehmen, dass die Vorlage positiv prädisponiert ist. Die bisherige Problematisierung der Pflegesituation und die Grosswetterlage sprechen dafür.
Eine Extrapolation aus der Schlussabstimmung im Nationalrat ergibt ein einigermassen gesichertes Potential an Zustimmung von rund 40 Prozent. Zum gleichen Schluss kommt auch die Hochrechnung aus dem Text im Absimmungsbüchlein. Beide setzen allerdings voraus, dass sich die Positionen und Diskussionen im Abstimmungskampf nicht ändern.
Eine anfängliche Zustimmungsmehrheit erscheint plausibel. Es ist allerdings zu erwarten, dass die normale Entwicklung in der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen einsetzen wird. Diese geht vom Ja Richtung Nein. Wo sie endet, ist vorerst unklar. Der indirekte Gegenvorschlag wird dabei eine Rolle spielen.
Der Ausgang der Volksabstimmung ist deshalb offen.
Dafür spricht auch, dass die Mitte, die in er laufenden Legislaturperiode die erfolgreichste Partei bei Abstimmungen war, Stimmfreigabe beschlossen hat. Im Parlament war sie noch dagegen. Das zeigt, dass die Frontstellung gegen die Vorlage bröckelt.