Nationalrat will nichts wissen von Sammelklagen in der Schweiz
Der Nationalrat ist gegen eine zivilrechtliche Entschädigung durch Sammelklagen. Die vorberatende Kommission sah darin eine «Amerikanisierung».

Schweizerinnen und Schweizer sollen keine zivilrechtlichen Entschädigungen durch Sammelklagen einfordern können. Der Nationalrat ist auf eine vom Bundesrat ausgearbeitete Vorlage für neue Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes nicht eingetreten.
Die grosse Kammer folgte damit einem Antrag der Mehrheit ihrer vorberatenden Kommission für Rechtsfragen (RK-N), die in der Vorlage die Gefahr einer «Amerikanisierung» des Schweizer Rechtssystems sieht. Mit 112 zu 74 Stimmen bei vier Enthaltungen beschloss der Nationalrat am Montag Nichteintreten.
Das Parlament hatte dem Bundesrat den Auftrag gegeben, Vorschläge zum kollektiven Rechtsschutz auszuarbeiten. Der Bundesrat stellte diese bereits Ende 2021 vor, doch befasste sich anschliessend die RK-N ausführlich mit den Vorschlägen.
Erheblichen Schaden für Wirtschaft befürchtet
Beschliesst demnächst auch der Ständerat, nicht auf die Vorlage einzutreten, ist diese gescheitert. Tritt die kleine Kammer darauf ein, geht sie zurück in den Nationalrat.
Mit einer «Amerikanisierung» des Schweizer Rechtssystems sei gemeint, dass sich kommerziell ausgerichtete Anwaltskanzleien und Organisationen zur Prozessfinanzierung auf die Einreichung von Klagen spezialisieren könnten, schrieb die RK-N im Vorfeld der Debatte. Diese Klagen könnten der Wirtschaft insgesamt erheblichen Schaden zufügen.
Philipp Matthias Bregy (Mitte/VS) sagte im Namen der RK-N im Rat, weltweit sei eine eigentliche «Klageindustrie» entstanden, welche ihren Umsatz je länger, je mehr steigere. Sammelklagen stünden weniger im Interesse der Konsumentinnen und Konsumenten als von Anwältinnen und Anwälten. Wer in der Schweiz einen Schaden geltend machen wolle, könne das tun.
Mehrere mutmasslich Geschädigte könnten als «Streitgenossenschaft» auftreten, so Bregy wörtlich. Dies dann, wenn die Klagen denselben Streitgegenstand und dieselbe Verfahrensart hätten sowie das gleiche Gericht beträfen.
Linksgrün spricht von «Arbeitsverweigerung»
Bregy trat mit dieser Aussage auch einem Votum von Ueli Schmezer (SP/BE) entgegen, der dem Walliser Nationalrat vorwarf, wider besseres Wissen von einer «Amerikanisierung» zu reden. Support erhielt die Mehrheit der Rechtskommission von der SVP-, der FDP- und einer Mehrheit der Mitte-Fraktion.
Für Eintreten warben Vertreterinnen und Vertreter der Grünen, der SP und der GLP. Die Präsidentin der Stiftung für Konsumentenschutz, Nadine Masshardt (SP/BE), warf der Mehrheit der Rechtskommission «Arbeitsverweigerung» vor, wenn sie Nichteintreten beantrage. Bregy sagte ihr, die Kommission tue das, weil sie zum Schluss gekommen sei, die Vorlage lasse sich gar nicht verbessern.
Eine Minderheit der RK-N befürwortete die Vorlage und sagte, Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten würden so künftig deutlich weniger Rechte haben als ihre europäischen Nachbarn. Die Sprecherin dieser Minderheit, Sophie Michaud Gigon (Grüne/VD), sagte, ein Nichteintreten auf die Vorlage würde die schwache Position der Schwächeren im Schweizer Rechtssystem zementieren.
Jans: Fehlende Sammelklagen sind Nachteil für Konsumenten
Von einer «Amerikanisierung» zu reden, sei falsch. In anderen europäischen Ländern mit Sammelklagen sei das Rechtssystem nicht zusammengebrochen, so Michaud weiter. Beat Flach (GLP/AG) sagte, seine Fraktion sei zuerst skeptisch gegenüber Sammelklagen gewesen. Doch in der Konzeption des Bundesrats stelle dieses Instrument eine Verbesserung des Schweizer Rechtssystems dar.
Bundesrat Beat Jans sagte, alle EU-Länder hätten heute Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes. Es sei zum Nachteil von Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten, wenn ihnen diese fehlten. Das habe etwa der VW-Diesel-Skandal gezeigt, bei dem im Ausland Entschädigungen geflossen seien, nicht aber in der Schweiz.
Mit der Vorlage beabsichtigt der Bundesrat, eine Änderung der Verbandsklage im Sinne von Sammelklagen vorzunehmen. Jans sagte, es sei geplant, dass nur nicht gewinnorientierte Verbände Sammelklagen einreichen könnten. Das zeige einen der vielen Unterschiede der Vorlage, beispielsweise zu US-amerikanischen Sammelklagen.
Im neuen Verbandsklageverfahren soll auch die einvernehmliche kollektive Einigung zwischen den Parteien mit einem kollektiven Vergleich möglich sein, wie der Bundesrat Ende 2021 mitteilte.
Wenn dieser vom Gericht genehmigt und für verbindlich erklärt wird, bindet der kollektive Vergleich laut Landesregierung alle betroffenen Personen, die sich der Verbandsklage angeschlossen haben.