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Angst vor Taliban und Zeitdruck: Verzweiflung am Flughafen Kabul

Keystone-SDA
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Afghanistan,

Angesichts eines wachsenden Zeitdrucks werden Chaos, Gewalt und Verzweiflung rund um den Flughafen von Afghanistans Hauptstadt Kabul immer grösser.

kabul
Eine Luftaufnahme des Flughafens in Kabul. - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Tausende Afghanen hoffen immer noch auf eine Gelegenheit, sich nach der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban mit westlichen Flügen in Sicherheit zu bringen.

Clarissa Ward vom US-Sender CNN beschrieb herzzerreissende Szenen und sprach vom «Überleben der Stärksten.» Auf dem Weg zum Flughafen erlitt ein Deutscher, ein Zivilist, eine Schussverletzung. Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte am Freitag in Berlin: «Er wird medizinisch versorgt, es besteht aber keine Lebensgefahr.»

Zuvor hatte eine Beraterin der afghanischen Mission bei den Vereinten Nationen in den USA auf Twitter geschrieben, einem Familienmitglied sei am Donnerstag am Flughafen Kabul in den Kopf geschossen worden.

Trotz aller Gefahren hielt der Ansturm von Menschen, die auf das Flughafengelände gelangen wollen, den fünften Tag in Folge an. Taliban-Kämpfer feuerten am Eingang zum zivilen Teil des Flughafens in die Luft und schlugen mit Peitschen, um die Leute zu vertreiben, wie ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur DPA berichtete.

Am Flughafen gibt es einen zivilen und einen militärischen Bereich. Die Menge am Zugang zum militärischen Teil sei gross und unberechenbar, berichtete ein Reporter des US-Senders CNN. Bilder zeigten, wie US-Soldaten in die Luft schossen, damit die Menschenmenge von den Aussenmauern zurückweicht.

CNN-Reporterin Ward berichtete, wie in zwei Fällen afghanische Frauen ihre Babys US-Soldaten zugeworfen hätten, die in Höhe der Mauerkante innerhalb des Flughafenbereichs standen. Es gebe keinen Mechanismus, um die Menschen abzufertigen. Es gebe keine Zelte, in denen Frauen mit ihren Babys bei 35 Grad Celsius Schutz suchen könnten.

In einem Schreiben der deutschen Botschaft an Menschen, die auf einen Flug hoffen, hiess es: «Die Lage am Flughafen Kabul ist äusserst unübersichtlich. Es kommt an den Gates immer wieder zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Der Zugang zum Flughafen ist derzeit möglich. Zwischendurch kann es aber immer wieder kurzfristig zu Sperrungen der Tore kommen, auch weil so viele Menschen mit ihren Familien versuchen, auf das Gelände zu kommen. Wir können Sie leider nicht vorab informieren, wann die Tore geöffnet sein werden.»

Die Nerven liegen bei vielen Menschen auch deshalb blank, weil der Zeitdruck wächst: Die USA wollen eigentlich bis zum 31. August den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan abschliessen. Vom Schutz durch die derzeit 5200 US-Soldatinnen und -Soldaten hängen aber die Evakuierungseinsätze anderer Streitkräfte wie beispielsweise der Bundeswehr ab.

Die niederländische Aussenministerin Sigrid Kaag sagte am Freitag: «Wir sind total von ihnen (US-Streitkräften) abhängig.» Rund 700 Niederländer müssten noch schnell evakuiert werden. Kaag sprach sich dafür aus, dass die US-Amerikaner auch nach dem 31. August in Afghanistan bleiben sollten, um die Evakuierung sicherzustellen.

US-Präsident Joe Biden geht davon aus, dass zwischen 50 000 und 65 000 Menschen von den USA in Sicherheit gebracht werden wollen. Möglicherweise bleiben auch über den 31. August hinaus US-Truppen in Kabul - sicher ist das nicht. Zudem ist ungewiss, wie sich die Taliban verhalten.

Die Bundeswehr hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zufolge bislang 1700 Menschen über eine Luftbrücke in Sicherheit gebracht. Es ist der bislang grösste Evakuierungseinsatz der Bundeswehr. Die US-Streitkräfte flogen seit Samstag dem Pentagon zufolge 7000 Menschen (Stand Donnerstag/Ortszeit) ins Ausland. Am Sonntag hatte der afghanische Präsident Aschraf Ghani fluchtartig das Land verlassen. Wenige Stunden später nahmen die Taliban kampflos die 5,4-Millionen-Einwohner-Stadt ein. Seitdem sind sie die neuen Machthaber in Afghanistan.

US-Geheimdienste haben nach Informationen der «New York Times» bereits im Juli vor einem raschen Zusammenbruch des afghanischen Militärs und einem wachsenden Risiko für die Hauptstadt Kabul gewarnt. In mehreren Berichten stellten sie zu dieser Zeit unter anderem in Frage, ob afghanische Sicherheitskräfte den Taliban ernsthaften Widerstand leisten würden, schrieb das Blatt unter Berufung auf informierte Kreise. Biden hatte am 8. Juli noch öffentlich erklärt, eine Machtübernahme der Taliban in ganz Afghanistan sei unwahrscheinlich. Trotz des Vormarschs der Islamisten hielt er damals an seinen Abzugsplänen fest.

Die Taliban suchen einem für die Vereinten Nationen erstellten Bericht zufolge gezielt nach vermeintlichen Kollaborateuren. Sie drohen auch offen mit Repressalien für deren Familienmitglieder. In dem vertraulichen vierseitigen Bericht des RHIPTO Norwegian Center for Global Analyses, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, heisst es, dem grössten Risiko seien Personen ausgesetzt, die wichtige Positionen im Militär, der Polizei oder anderen Ermittlungsbehörden eingenommen hatten. Die Beteuerungen der Taliban, keine Vergeltungsaktionen vornehmen zu wollen, hält der Leiter der Denkfabrik, Christian Nellemann, nicht für glaubhaft. «Sie versuchen einfach, die Leute an Ort und Stelle zu halten, um sie festnehmen zu können», so Nellemann auf dpa-Anfrage.

Mehrere Vertreter der bisherigen afghanischen Regierung werden einem lokalen Medienbericht zufolge vermisst. Verwandte mehrerer Regierungsbeamter sagten dem TV-Sender ToloNews, ihre Angehörigen seien verschwunden oder würden seit der Machtübernahme der Taliban vermutlich von den Islamisten festgehalten.

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