Schreckliche Ikone der Fotografie: 50 Jahre «Napalm-Mädchen»
Es ist eine der denkwürdigsten Aufnahmen des 20. Jahrhunderts: Nick Út drückt auf den Auslöser, als ein vietnamesisches Dorf mit Napalm angegriffen wird.
Das Wichtigste in Kürze
- Vor 50 Jahren schoss Nick Út das schreckliche Foto von Phan Thi Kim Phúc im Vietnamkrieg.
- Das neunjährige Mädchen rannte schreiend aus einem Dorf, das mit Napalm angegriffen wurde.
- Die Fotografie des damals 21-Jährigen brannte sich ins weltweite Gedächtnis ein.
Nackt und schreiend läuft ein junges Mädchen frontal auf den Fotografen zu. Der drückt den Auslöser – und hält in einem winzigen Moment den grossen Schrecken des Vietnamkrieges auf Film fest. «The Terror of War» ist noch heute eine der bedeutendsten und authentischsten Darstellungen von Gräueltaten in einem Krieg. Die neunjährige Phan Thi Kim Phúc hat sich als Symbol ins weltweite Gedächtnis eingebrannt.
«Was ist fragiler als ein kleines, nacktes Mädchen mitten in einem absurden Kontext – auf offener Strasse umgeben von Militärpersonal.» Michael Ebert, Experte für Fotografiegeschichte, erklärt die Sogwirkung der Aufnahme. «Wenn Kinder zu Opfern werden, berührt uns das immer ganz, ganz stark.»
Ganze Familie auf Fotografie
Die Qualen des Mädchens in der Mitte der Szenerie sind das zentrale Element in der Bildkomposition. Ihr Cousin im Vordergrund, auch die anderen Kinder gehören zur Familie. Im Hintergrund sind Soldaten und dicke Rauchschwaden auszumachen. Die ausgebreiteten Arme lassen christliche Betrachter wohl an Jesu Tod am Kreuz denken.
Ein weiterer Faktor, der dieses Bild in seiner ikonischen Wirkung so berührend mache, sei das Happy End, so Ebert. Denn Phan Thi Kim Phúc überlebt. Aber der Reihe nach.
Als am 8. Juni 1972 beschiesst die südvietnamesische Armee fälschlicherweise das Dorf Trang Bang etwa 40 Kilometer nordwestlich des damaligen Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt). Der Abzug der mit ihr verbündeten US-Truppen aus dem Land ist derzeit bereits in vollem Gange.
Nick Út schoss Foto mit 21 Jahren
Vor Ort ist Fotograf Nick Út. Der 21-jährige Vietnamese arbeitete damals bereits seit sechs Jahren für die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP). Kurz vor der geplanten Rückkehr nach Saigon «sah ich, wie ein Flugzeug vier Napalmbomben abwarf». Dies schreibt er Jahrzehnte später im US-Magazin «Newsweek».
Menschen, die teils tote Kinder in ihren Armen halten, rennen auf ihn zu, darunter auch Kim Phúc. «Ich fragte mich, warum sie keine Kleidung trug», erinnert sich Ut. «Aber als ich näher an sie heranlief und Fotos machte, konnte ich sehen, wie schwer verbrannt sie war.»
Es dauert maximal 15 Sekunden, bis der Fotograf und seine Kollegen anderer Medien den Kindern helfen. Út selbst bringt das Mädchen und weitere Verwundete in ein Krankenhaus.
«Perfekte Millisekunde»
«Er hat ihr das Leben gerettet», sagt Ebert, der sich seit Jahren intensiv mit dem Foto und dessen Protagonisten auseinandersetzt. Anlässlich des 50. Jahrestages kuratiert er eine Ausstellung in Hilden bei Düsseldorf. «Ich habe alle Aufnahmen ausgewertet, die an dem Tag gemacht worden sind», sagt der Wissenschaftler der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Mehrere Fotografen seien in Trang Bang gewesen. «Nur Nick hat das Bild der Bilder gemacht.» Es sei die perfekte Millisekunde gewesen, in der der junge, aber erfahrene Reporter mit seiner Leica M2 abgedrückt habe.
Eigentlich zeigt Úts Aufnahme einen grösseren Ausschnitt der Szene: Am rechten Bildrand sind noch weitere Soldaten und ein Fotograf zu sehen. Das ursprüngliche Kleinbildformat des Fotos wird aber bereits im AP-Büro in Saigon passend für das Zeitungsformat beschnitten: Kim Phuc rückt dabei in die Mitte – und gibt der Aufnahme die bis heute gelobte Energie.
Nacktheit ist eigentlich verboten
Nach Úts Ankunft aus dem Krankenhaus in der Redaktion wird das Foto an die Zentrale nach New York gefunkt. Trotz Verstosses gegen die Regel, eigentlich keine vollständig nackten Personen zu zeigen, geht die Aufnahme in den weltweiten AP-Dienst.
Abendzeitungen drucken das Bild, am darauf folgenden Tag ist es auf der Titelseite der «New York Times». Es wird später als «Pressefoto des Jahres» ausgezeichnet, zudem erhält Út den renommierten Pulitzer-Preis. Anfang 2021 verleiht ihm US-Präsident Donald Trump die National Medal of Arts.
Kim Phúc erleidete damals auf der Hälfte ihres Körpers Verbrennungen dritten Grades. 14 Monate muss sie im Krankenhaus bleiben. Heute arbeitet die 59-Jährige als Friedensbotschafterin unter anderem für die Vereinten Nationen. Seit Anfang der 1990er Jahre lebt sie in Kanada.
«Dieses Bild erinnert mich immer wieder daran, dass ich meine Kindheit verloren habe.» Dies sagte sie kürzlich während einer Audienz bei Papst Franziskus, zu der sie und ihr guter Freund Út gereist waren. «Ich bin nicht länger ein Opfer des Krieges. Ich bin eine Mutter, eine Grossmutter und eine Überlebende, die zum Frieden aufruft.»