Ab Donnerstag arbeiten Bürger in die eigene Tasche
Mehr als die Hälfte von jedem verdienten Euro zahlt der Durchschnittsbürger an den Staat. So rechnet zumindest der Bund der Steuerzahler - und findet das einen hohen Preis. Was er aus Sicht von Kritikern zu wenig berücksichtigt: Was man dafür alles bekommt.
Das Wichtigste in Kürze
- Ein halbes Jahr für den Staat, ein halbes Jahr für sich selbst: Nach einer Prognose des Steuerzahlerbunds arbeiten die Bundesbürger erst von Donnerstag an in die eigene Tasche.
Alles, was sie vorher verdient hätten, greife der Staat mit Steuern und Sozialabgaben direkt wieder ab, sagte Verbandspräsident Reiner Holznagel der Deutschen Presse-Agentur. Er kommt zu dem Schluss: In kaum einem anderen europäischen Land werde der Steuerzahler so stark zur Kasse gebeten wie in Deutschland. Das hat Aufregerpotenzial, die FDP sieht das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beschädigt. Doch die Berechnung des Lobbyverbands ist auch umstritten.
Rein rechnerisch, so sagt der Bund der Steuerzahler, kassiere der Staat bei einem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt rund die Hälfte des Einkommens ein. In diesem Jahr bleiben von jedem verdienten Euro demnach nur 47,9 Cent im eigenen Portemonnaie - der Rest geht an die öffentliche Hand. Umgerechnet aufs Jahr ergibt sich: Erst ab 9. Juli, 17.30 Uhr, fliessen Lohn und Gehalt wirklich aufs eigene Konto.
Verglichen mit dem vergangenen Jahr ist die Belastung damit etwas gesunken. Grund dafür sei vor allem die Corona-Krise, erklärt Holznagel. Weil viele Menschen in Kurzarbeit sind oder ihre Arbeit verloren haben, zahlen sie weniger Einkommensteuer. Zugleich gingen die Konsumausgaben und damit die indirekten Steuern deutlich zurück.
Dämpfenden Effekt hat laut Holznagel aber auch der gesunkene Beitrag für die Arbeitslosenversicherung. Ausserdem sei erneut die Inflation zugunsten der Steuerzahler berücksichtigt und die sogenannte kalte Progression gedämpft worden. «Unter dem Strich bleibt Deutschland eines der Länder, wo die Menschen am meisten durch Steuern und Abgaben belastet werden», betont Holznagel.
Die FDP hat dafür angesichts der Corona-Krise kein Verständnis. «Bei der Steuer- und Abgabenlast bricht Deutschland alle Rekorde, selbst wenn die Einnahmen mal stocken», kritisiert Fraktionsvize Christian Dürr. «In einer Krise, in der Millionen Menschen um ihre Existenz fürchten mussten, wären substanzielle Entlastungen angebracht gewesen.» Parteichef Christian Lindner pflichtet ihm auf Twitter bei.
Die Forderungen der FDP sind bekannt: Eine Senkung der Einkommensteuer und eine vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Das käme besonders Reicheren zu Gute, denn derzeit ist ohnehin geplant, dass die meisten Bürger ab Januar keinen Soli mehr zahlen müssen - nur die einkommenstärksten zehn Prozent werden weiter zur Kasse gebeten.
Auch zur Abfederung der Corona-Krise nimmt der Staat viel Steuergeld in die Hand - so viel, dass manche Ministerien gar nicht wüssten, wohin mit dem Geld, meint Holznagel. Man müsse gut aufpassen, ob die Massnahmen wirkten. «Denn was uns nicht passieren darf, ist, dass wir sehr viel Steuergeld zum Fenster herauswerfen, ohne dass es eine positive Wirkung hat auf den Einzelnen und den Staat.»
Bei seinen Prognosen stützt sich der Steuerzahlerbund auf repräsentative Haushaltsumfragen des Statistischen Bundesamtes. Trotzdem sind sie umstritten. Kritiker weisen darauf hin, dass Arbeitnehmer von gezahlten Steuern und Sozialabgaben auch selbst stark profitieren. Ohne diese müssten sie viel Geld etwa für die Krankheitsvorsorge ausgeben - was der Steuerzahlerbund in seiner Berechnung aber nicht berücksichtige.
«Sozialabgaben sind keine echten Steuern», betont Stefan Bach, Volkswirtschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zu einem grossen Teil handele es sich um Versicherungsbeiträge, die nur eine private Vorsorge ersetzten. Die Zahler erhielten also eine Gegenleistung. Ausserdem führten höhere Einzahlungen in die Rentenkasse auch zu einer höheren Rente, ein Teil des Geldes fliesse also später wieder in die Tasche der Bürger zurück.
Tatsächlich machen die Sozialabgaben den grössten Anteil in der Abgaben-Rechnung des Bunds der Steuerzahler aus: 30,9 Cent von jedem Einkommens-Euro fliessen an die Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung - mehr als alle Steuern zusammen, die sich auf 21,2 Cent von jedem Euro summieren.
Kritiker werfen dem Steuerzahlerbund deshalb vor, mit neoliberalen Hintergedanken an diffuse Überlastungsgefühle der Bevölkerung zu appellieren - und dabei vor allem die Reichsten im Blick zu haben. Niemand zahle gerne viel Geld für Leistungen, die er vielleicht auf den ersten Blick nicht sehe. Letztlich aber seien Steuern und Sozialbeiträge das Geld der Gesellschaft, sagt Bach. Der Staat finanziere damit Dinge, die für das Funktionieren der Gesellschaft und einen sozialen Ausgleich unabdingbar seien - auch wenn sich über einzelne Teile des Haushalts diskutieren lasse.
Genau das will der Steuerzahlerbund: Der ausgerufene «Gedenktag» solle gar kein Symbol dafür sein, dass man die Hälfte des Jahres umsonst arbeite, beschwichtigt Holznagel. Er stelle staatliche Leistungen nicht infrage. «Wir wollen aber darüber diskutieren, ob der Preis angemessen ist für das, was wir bekommen.»