Frontex-Chef: Schlepper setzen auf Blechboote
Menschenschmuggler in Tunesien verfolgen eine neue Strategie. Statt in grösseren Schiffen schicken sie Migranten in Blechbooten auf das Mittelmeer. Die riskante Passage ist preisgünstig.
Das Wichtigste in Kürze
- Schlepper aus Tunesien setzen nach Beobachtung der EU-Grenzschutzagentur Frontex zunehmend billige und gefährliche Blechboote ein, um mehr Migranten über das Mittelmeer zu bringen.
«Diese Blechboote können in 24 Stunden zusammengeschweisst werden. Sie sind nicht wirklich seetauglich. Etwas Seegang – und sie gehen unter», sagte Frontex-Chef Hans Leijtens der Deutschen Presse-Agentur.
Trotzdem entscheiden sich viele Migranten aus Afrika für die riskante Passage im Blechboot – weil sie günstiger ist als die Überfahrt auf einem grösseren Schiff. Leijtens sieht die neue Masche der Schlepper als einen Grund dafür, dass die Zahl der versuchten irregulären Grenzübertritte im zentralen Mittelmeer rasant gestiegen ist.
Mit ihren scharfkantigen Blechrändern erinnern die Boote an Konservendosen. Sie haben einen Aussenbord-Motor und werden vollgepfercht mit 30 bis 50 Menschen. Kentert das Boot auf der rund 150 Kilometer langen Fahrt von Tunesien nach Italien, kann sich anders als bei einem Holzboot niemand daran festhalten.
Riskante Überfahrt für 500 Euro
Für die Schlepperbanden sei die neue Methode jedoch sehr profitabel, sagte Leijtens. «Weil die Boote so billig sind, können sie niedrigere Preise anbieten.» Statt 1500 bis 2000 Euro für die Passage auf einem grösseren Schiff zahlten die Migranten für die riskantere Überfahrt auf einem Blechboot 500 Euro. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) seien auf der Route in den ersten vier Monaten dieses Jahres bereits fast tausend Menschen ums Leben gekommen.
Nach Einschätzung des Frontex-Chefs könnte unter anderem die neue Strategie der Schlepperbanden für die enorm gestiegene Zahl irregulärer Grenzüberschreitungen über das zentrale Mittelmeer verantwortlich sein. Im Zeitraum von Januar bis April registrierte Frontex auf dieser Route – von Libyen und Tunesien nach Italien und Malta – 42.165 solcher Fälle. Das waren fast dreimal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Gerade die Ausreisen aus Tunesien seien in die Höhe geschnellt, sagte Leijtens. Hier gebe es eine Steigerung um das Zehnfache im Vergleich zu den ersten vier Monaten 2022.
«Dies wird ein richtig heisser Sommer»
Dabei ist Tunesien vom Herkunfts- zum Transitland geworden: Die meisten Migranten auf dieser Route kommen inzwischen aus Ländern südlich der Sahara. Leijtens rechnet damit, dass die Migrationsbewegung über Tunesien in den kommenden Monaten noch zunehmen wird. «Dies wird ein richtig heisser Sommer.»
Der 60 Jahre alte Niederländer führt Frontex seit vergangenem Dezember. Kein leichtes Erbe: Im April 2022 hatte der langjährige Frontex-Chef Fabrice Leggeri nach schweren Vorwürfen gegen ihn und Mitarbeiter seinen Posten zur Verfügung gestellt. Hintergrund waren insbesondere Ermittlungen zu illegalen Zurückweisungen von Migranten im Mittelmeer. Ihnen zufolge sollen Führungskräfte der in Warschau ansässigen Agentur Frontex absichtlich vertuscht haben, dass griechische Grenzschützer Flüchtlinge zurück aufs offene Mittelmeer brachten. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den Aussengrenzen – sogenannte Pushbacks – sind nach internationalem Recht illegal.
Leijtens will anders durchgreifen, wie er sagte. «Jeder Fall, jede Anschuldigung, jede angebliche Beteiligung von Frontex muss untersucht werden, und wir tun dies Fall für Fall.» Sollte eine Beteiligung von Frontex-Beamten nachgewiesen werden, dann würde dies bedeuten, «dass entweder ein Disziplinarverfahren oder sogar ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wird».
Und was sollte die EU nach Meinung des Frontex-Chefs im Fall von Tunesien tun? Leijtens nennt als Beispiel die Status-Abkommen, die die EU-Kommission mit Westbalkan-Ländern wie Serbien, Albanien und Nordmazedonien abgeschlossen habe. Sie ermöglichen einen Frontex-Einsatz in Ländern, die nicht zur EU gehören. Mit den nordafrikanischen Staaten werde dies allerdings schwerer als im Westbalkan, so Leijtens. «Das wird kein Sprint, sondern ein Marathon.»