Hans-Ulrich Bigler: Politik 2025 – oder die Moral einer Telefonzelle
In der Politik wird oftmals viel versprochen – und dann das Gegenteil eingehalten. Das führe zu Politikverdrossenheit, findet Kolumnist Hans-Ulrich Bigler

Das Wichtigste in Kürze
- Hans-Ulrich Bigler schreibt in seiner Kolumne über Politikverdrossenheit.
- Er liefert drei aktuelle Beispiele aus der Schweiz und Deutschland.
Beginnen wir für einmal mit dem Duden. Dort wird Politikverdrossenheit definiert mit «durch politische Skandale, zweifelhafte Vorkommnisse oder hervorgerufene Verdrossenheit gegenüber Politik».
Wie gleich zu zeigen ist, gibt es genügend Beispiele dafür.
Vieles spielt sich im Hintergrund ab
Entgegen dem ersten Impuls geht es dabei nicht nur um die grossen Schlagzeilen. Wer die Politik als aufmerksamer Beobachter begleitet, merkt schnell, wie vieles sich auch im Hintergrund abspielt.
Einen Blockbuster bekamen wir in den letzten Tagen und Wochen von unserem nördlichen Nachbarn serviert, der mit so ziemlich sämtlichen Gewürzen und Zutaten versehen war.
Es begann mit dem Wahlkampf für den Bundestag. Kanzlerkandidat Friedrich Merz, Vertreter der CDU, legte sich klar fest. Es sei «in der naheliegenden Zukunft ausgeschlossen, dass wir die Schuldenbremse reformieren».

Auch das Wahlprogramm lässt keinen Spielraum offen: «Wir halten an der Schuldenbremse des Grundgesetzes fest. Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen.»
1000 Milliarden verabschiedet
Nun wir alle wissen, wie es gekommen ist. Schwindelerregende 1000 Milliarden wurden unter Führung der CDU als Investitionsprogramm dieser Tage im Bundestag verabschiedet. Eine Kehrtwende um 180 Grad. «What ever it takes», lautet nun plötzlich die Losung.
Wer diese exorbitanten Schulden dereinst bezahlen wird oder muss, völlig egal.
Selbst in der eigenen Partei von Merz kommt massive Kritik auf. Und es herrscht Empörung. Einige sehen die DNA der CDU verraten. Von Rechts kommt der Ruf des «Wahlbetrugs» und von Links die Kritik der «Staatsverachtung».
Faust im Sack
Auf der Strecke bleiben indessen die Wählerinnen und Wähler Deutschlands.
Alle, die in guten Treuen die CDU mit dem Versprechen der unerschütterlichen Einhaltung der Schuldenbremse gewählt haben, sind die geprellten. Ihnen bleibt nichts anderes als die berühmte Faust im Sack und die trübe Aussicht, bei den nächsten Wahlen vielleicht für eine Korrektur sorgen zu können.
Bundesrätin Amherd im Fokus der Kritik
«Kein Problem unserer Stufe», können wir hier in der Schweiz mit leichter Schadenfreude im Hinterkopf sagen. Nun, bei uns ging es bloss um die Ersatzwahl eines Bundesrates.

Doch auch hier war Erstaunliches zu beobachten: Da das übliche mediale Geplänkel rund um die Kandidaten nichts hergab, stand die abtretende Bundesrätin Amherd im Fokus der Kritik.
Der Chef der Armee und der Chef des Nachrichtendiensts haben gekündigt, der Gesamtbundesrat wurde dazu von der zuständigen Departementschefin über Wochen im Dunkeln gelassen.
Man hat nur gefragt
Flugs nutzte Ständerätin Andrea Gmür aus Luzern die Gunst der Stunde und fragte sich am gleichen Tag, ob das Leck bei Bundesrätin Keller-Suter und damit im Finanzdepartement zu suchen sei.

Derartige Fragestellungen haben den Vorteil, dass man selbst nicht angegriffen werden kann. Man hat nur gefragt.
Erstaunlich ist indessen, dass eine Ständerätin eine Bundesrätin der Amtsgeheimnisverletzung verdächtigt, also einer Straftat.
Wo ist das Leck?
Gleichzeitig beklagt sie eine Schwächung unserer Institutionen, bedenkt aber nicht, dass gerade sie selbst ganz wesentlich dazu beiträgt.
Wenige Tage später stellte sich heraus, dass das Leck wahrscheinlich im VBS zu suchen ist.
Das bewog die Ständerätin hingegen nicht zu einer Entschuldigung. Diese erfolge erst, wenn das Finanzdepartement aufgezeigt habe, nicht darin verwickelt zu sein.
Eine klassische Beweislastumkehr, die einem fast die Sprache verschlägt.
Politikverdrossenheit ist aber auch im politischen Lobbying zu suchen. Bestes Beispiel aus dem Kanton Zürich: Da tingelte ein FDP-Kandidat vor zwei Jahren während Wochen und Monaten durch den ganzen Kanton.
Allen, die es hören und nicht hören wollten, erklärte er die Ineffizienz der kantonalen Regierung. Es brauche wieder mehr private Eigeninitiative, weniger Staatsunterstützung und staatliche Eingriffe, tiefere Steuern und ganz generell ein Revitalisierungsprogramm für die Wirtschaft.
Das pure Gegenteil
Dem ist aus liberaler Sicht eigentlich zuzustimmen, gewählt wurde er trotzdem nicht.
Der gleiche Herr ist heute Präsident von «auto-schweiz», den Importeuren von Autos. Darunter hat es auch E-Autos.
Nun tönt es plötzlich ganz anders. Als Lobbyvertreter der Autobranche forderte er jüngst vom Bund finanzielle Anreize zur Förderung von E-Autos. Das kann man gut finden oder nicht.
Es ist aber das pure Gegenteil von seinem einstigen Regierungsrats-Wahlprogramm.

Kehren wir zurück nach Deutschland, zu Oskar Lafontaine, SPD-Mitglied und früherer Bundesfinanzminister. Er sagt: «Ich wünsche mir, die Bundesregierung hätte die Moral einer Telefonzelle. In der zahlt man nämlich zuerst und wählt dann. Bei der Bundesregierung muss man immer zuerst wählen und dann zahlen.»
Zur Person: Hans-Ulrich Bigler ist Ökonom und war von 2008 bis 2023 Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV). Er ist im Vorstand mehrerer Verbände, darunter auch das Nuklearforum Schweiz, und sass von 2015 bis 2019 für die FDP im Nationalrat. Heute ist Bigler SVP-Mitglied.