Rollt Joe Biden den Taliban in Afghanistan den roten Teppich aus?

Nach 20 Jahren Krieg verlassen die US-Streitkräfte Afghanistan. Die Entscheidung von Joe Biden löst in beiden Ländern grosse Angst und Diskussionen aus.

US-Präsident Joe Biden kündigt am Mittwochabend den Afghanistan-Rückzug an. - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Bis im September sollen sich alle US-Soldaten aus Afghanistan zurückgezogen haben.
  • Zahlreiche Afghaninnen und Afghanen fühlen sich nach dem Entscheid im Stich gelassen.
  • «Ich bin so besorgt über meine Zukunft», sagt eine einheimische Studentin.

«Es ist Zeit, Amerikas längsten Krieg zu beenden», sagt US-Präsident Joe Biden am Mittwochabend. Der 78-Jährige vollendet, was sein Amtsvorgänger Donald Trump angestossen hat: Die USA ziehen sich nach 20 Jahren aus Afghanistan zurück.

Bis am 11. September sollen alle Truppen zurückgekehrt sein. Die weiteren Nato-Mitgliedstaaten ziehen nach dem Entscheid des Demokraten mit.

US-Präsident Joe Biden besucht nach der Bekanntgabe des Truppenabzugs aus Afghanistan den Nationalfriedhof Arlington. - Keystone

Der Beschluss löst einige Debatten aus. In den US-Medien sinnieren mehrere Veteranen über die Notwendigkeit ihres Einsatzes. «Ich dachte, ich würde glücklich sein. Es fühlt sich nicht wie ein Sieg an», sagt ein ehemaliger Soldat der «Washington Post».

Angst vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen

Dass sich die USA nicht als Gewinner fühlen, hat mit der Ziellosigkeit der letzten Jahre zu tun. Die Kräfte der Al-Qaida konnten zu Beginn des Kriegs innert kürzester Zeit zurückgebunden werden. Statt sich zurückzuziehen, weitete der damalige Präsident George W. Bush die Gründe für den Einsatz aus.

Die USA versprachen dem Land und seiner Bevölkerung Menschenrechte und ein demokratisches System. Der Feind, und wann der genau besiegt ist, war zuletzt nicht mehr genau definiert.

Die US-Armee rückten am 7. Oktober 2001 in Afghanistan ein. - Keystone

In einigen Bereichen gab es tatsächlich Fortschritte. Umso grösser ist die Angst nun, dass die Taliban nach dem Nato-Abzug bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen. Seit vergangenem September befindet sich die Landesregierung mit der wiedererstarkten Gruppe in Friedensgesprächen.

Bisher konnten jedoch nur kleine Erfolge verzeichnet werden. «Wir sind bereit für Frieden, aber auch vollständig ausgerüstet für den Dschihad», sagt ein Taliban-Kämpfer gegenüber «BBC».

Die letzten US-Regierungen hielten immer am Grundsatz fest, erst aus dem Land zurückzukehren, wenn die afghanischen Streitkräfte genügend ausgebildet sind. Wie gut dieses System funktioniert hat, wird sich wohl in den nächsten Monaten herausstellen.

Kritik an Joe Biden: «Verantwortungslos und egoistisch»

«Ich bin so besorgt über meine Zukunft. Sie scheint so düster. Wenn die Taliban die Macht übernehmen, verliere ich meine Identität», sagt Wahida Sadeqi, eine afghanische Studentin, der «New York Times».

«Ich bin 2004 geboren und habe keine Ahnung, was die Taliban mit den Frauen gemacht haben. Aber ich weiss, dass Frauen alles verboten wurde», erklärt sie.

Auch der afghanische Präsident, Aschraf Ghani, zeigte sich nicht sonderlich erfreut. Ghani teilte am Mittwochabend lediglich mit: Er habe mit Präsident Joe Biden telefoniert, und die islamische Republik respektiere den Entscheid. Und hängte an: «Afghanistans stolze Sicherheits- und Verteidigungskräfte sind voll und ganz in der Lage, ihr Volk und ihr Land zu verteidigen.»

US-Soldaten tragen einen Sarg aus einem Flugzeug. - Keystone

Es waren aber auch deutlichere Worte aus Regierungs-Kreisen zu vernehmen: Es sei das «Verantwortungsloseste und Egoistischste», was Amerika seinen afghanischen Partnern habe antun können. Das sagte ein Mitglied des Verhandlungsteams der Friedensgespräche mit den Taliban.

Aus der Sicht eines US-Präsidenten hätte es womöglich nie einen richtigen Zeitpunkt gegeben, die Truppen aus Afghanistan zurückzuziehen. Er sei nun der vierte Präsident, der sich mit dieser Frage auseinandersetzen musste, sagt Joe Biden.

«Ich werde diese Verantwortung nicht an eine fünfte Person weitergeben», erklärt er. «Wir gingen nach Afghanistan wegen eines schrecklichen Angriffs, der vor 20 Jahren passiert ist. Das kann nicht erklären, warum wir dort im Jahr 2021 bleiben sollten.»