Freispruch: «Pell-Urteil bringt Opfer erst recht zum Schweigen»
Am Dienstag wurde der wegen sexuellem Missbrauch verurteilte Kardinal George Pell freigesprochen. Für die Opfer ist das Urteil ein Schock, so ein Experte.
Das Wichtigste in Kürze
- Kardinal George Pell wurde im März 2019 zu sechs Jahren Haft verurteilt.
- Nun wurde der Schuldspruch wegen sexuellem Missbrauchs zweier Chorknaben aufgehoben.
- Die Autoritäten der katholischen Kirche würden noch immer Täter schützen, so ein Experte.
Wegen des sexuellen Missbrauchs zweier Chorknaben in den 1990ern wurde Kardinal George Pell im März 2019 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Nun kommt der 78-jährige Australier überraschend frei.
Das höchste australische Gericht gab am Dienstag dem Berufungsantrag des ehemaligen Finanzchefs des Vatikans statt. Die letzte Berufungsinstanz folgte den Argumenten seiner Verteidigung, wonach die Schuld des Kardinals nicht zweifelsfrei festzustellen sei.
Die Aussage eines der vermeintlichen Opfers, das heute Mitte 30 ist, sei dabei nicht ausreichend. Demnach habe «eine erhebliche Möglichkeit bestanden, dass eine unschuldige Person verurteilt wurde, weil die Beweise nicht den erforderlichen Beweisstandard für eine Schuld begründeten», erklärten die Richter des höchsten Gerichts.
Das zweite Opfer starb einige Jahre nach dem mutmasslichen Missbrauch an einer Drogenüberdosis.
Urteil ein grosser Schock für Opfer
Der Freispruch für Pell zeige wieder mal exemplarisch die Grenzen der menschlichen Gerichtsbarkeit auf, erklärt Jacques Nuoffer, Präsident der Westschweizer Opferhilfe-Gruppe Sapec. Auch sehe man den Einfluss, den eine Persönlichkeit wie der Angeklagte im Vergleich zu den Opfern haben könne.
Und schliesslich zeige es, «wie schwierig es ist, wenn man als Kind missbraucht wurde, 20 Jahre später die Beweise dazu zu erbringen», so der Psychologe auf Anfrage von Nau.ch.
Für die Opfer sei das Urteil ein grosser Schock, ist Nuoffer überzeugt. Nachdem die Opfer endlich den Mut hatten zu sprechen, und nachdem sie auch als Opfer anerkannt wurden, erklärten nun die obersten Richter, dass es berechtigte Zweifel gäbe. «Es ist ein Urteil, das diejenigen, die sich noch nicht zu sprechen getraut haben, noch mehr zum Schweigen bringt!»
Dass die Würdenträger ständig bei solchen Urteilen in Berufung gehen, zeige auch, «dass die Autoritäten der katholischen Kirche weiterhin die Täter verteidigen, anstelle die Opfer anzuhören, zu unterstützen und ihnen Wiedergutmachung zu leisten.»
Zivilklage eingereicht
Mit dem Entscheid des Obersten Gerichts ist der Fall strafrechtlich beendet. Jedoch hat der Vater des verstorbenen Knaben eine Zivilklage gegen den Geistlichen eingereicht.
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In der Westschweiz wurde 2016 auf Initiative der Opferhilfe-Gruppe Sapec und katholischer Institutionen mit Unterstützung von Schweizer Parlamentarier eine Kommission gegründet. Diese CECAR (Commission d'Écoute, de Conciliation, d'Arbitrage et de Réparation) ist eine neutrale, von den Behörden der katholischen Kirche unabhängige Kommission, die den Opfern einen Ort bietet, an dem sie angehört werden können, sich austauschen und mit dem Täter oder, falls dies nicht möglich ist, mit ihrem hierarchischen Vorgesetzten eine Versöhnung suchen können, insbesondere mit Blick auf eine finanzielle Entschädigung.