Hilfe, bin ich selbst ein kleiner Narzisst?
Jeder Mensch hat narzisstische Züge, schreibt unsere Kolumnistin. Doch was tun, wenn es in der Beziehung ungesund wird?
Das Wichtigste in Kürze
- Drei bis fünf Prozent der Menschen haben eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.
- Eine Partnerschaft mit diesen Menschen gestaltet sich oft schwierig.
- Auch der Weg aus einer solchen Beziehung ist nicht einfach. Im Gegenteil.
- Eine Kolumne von Narzissmus-Expertin Chris Oeuvray.
Narzissmus ist ein Thema, das aktuell viel Aufmerksamkeit bekommt. Vielleicht hast du dich auch schon gefragt: Bin ich ein Narzisst? Ist mein Partner oder meine Partnerin narzisstisch? Die Antwort darauf ist komplex – und sie wird dich vielleicht überraschen.
Zuerst die gute Nachricht
Jeder Mensch hat narzisstische Züge. Das ist normal. Diese Züge helfen uns, uns selbst zu behaupten, unsere Grenzen zu setzen und unsere Ziele zu verfolgen. Doch genau diese Eigenschaften bringen uns manchmal an unsere eigenen Grenzen.
Wir verletzen andere oder uns selbst. Wir machen Fehler, lernen dazu, wachsen und entwickeln uns weiter. Das ist ein gesunder Teil unserer menschlichen Natur.
Doch was ist mit Menschen, die eine sogenannte narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) haben? Eine solche mentale Störung betrifft etwa drei bis fünf Prozent der Menschen. Unabhängig von Kultur, Religion oder Geschlecht.
Menschen mit dieser Störung unterscheiden sich grundlegend. Ihre Persönlichkeit ist geprägt von:
Egoismus: Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse immer über die der anderen. Sie denken primär daran, was ihnen nützt, und können kaum oder gar nicht zurückstecken. Alles dreht sich um ihre Vorteile. Und sie nutzen andere, um ihre Ziele zu erreichen.
Egozentrik: Ihre Welt dreht sich ausschliesslich um sie selbst. Die Gefühle, Bedürfnisse oder Probleme anderer interessieren sie nur insoweit, wie sie für sie nützlich sind. Andere existieren für sie oft nur als Mittel zum Zweck.
Kontrolle und Dominanz: Sie haben ein unstillbares Bedürfnis, die Kontrolle über Menschen und Situationen zu behalten. Sie manipulieren, bestimmen und setzen ihre Macht ein, um überlegen zu bleiben.
Mangel an Empathie: Das wichtigste Merkmal. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung können keine Empathie empfinden. Sie können zwar andere Menschen sehr gut lesen und deren Schwächen erkennen, aber sie können nicht mitfühlen. Sie sehen deine Gefühle – und nutzen sie gegen dich.
Eine solche Störung kann nur von speziell geschulten Fachpersonen diagnostiziert werden.
Warum ist die Diagnose des Partners oder der Partnerin zweitrangig?
Viele Menschen denken: Wenn ich sicher wüsste, dass mein Partner oder meine Partnerin ein Narzisst ist, könnte ich endlich entscheiden, ob ich bleibe oder gehe. Doch dieser Gedanke ist ein Irrtum. Was wirklich zählt, ist nicht die Diagnose, sondern wie du dich in der Beziehung fühlst.
Diese Fragen solltest du dir stellen
Frag dich: Fühle ich mich respektiert und gehört? Habe ich das Gefühl, dass meine Bedürfnisse ernst genommen werden? Kann ich authentisch sein oder passe ich mich immer wieder an?
Wenn du schon vieles ausprobiert hast – Gespräche, Grenzen setzen, Kompromisse – und sich nichts ändert, dann steht eine Entscheidung an: Bleiben oder Gehen?
Bleiben heisst, dass du akzeptierst, schlecht behandelt zu werden. Es heisst, dass du dich weiterhin verletzen lassen wirst. Gehen heisst, dass du für dich und deine eigene Gesundheit einstehst. Das ist nicht immer leicht, aber es ist möglich.
Das Ende trägt den Anfang in sich
Der Weg aus einer ungesunden Beziehung ist nie einfach. Doch je mehr du auf dich selbst hörst, desto stärker wirst du.
Es geht nicht darum, die andere Person zu ändern, sondern dich selbst zu befreien. Und das ist ein Weg, der dich wachsen lässt und dir ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung schenkt.
Du verdienst Respekt. Du verdienst Liebe. Und vor allem: Du verdienst dich selbst zurück.
Zur Person: Chris Oeuvray ist Expertin für Narzissmus, psychologische Beraterin und Autorin («Narzissmus – ohne mich», weitere Bücher auf ch-oeuvray.ch) aus Zug.
